Zu viel des Guten
Die Credit Suisse verdiente in den letzten 13 Geschäftsjahren im Schnitt 390 Millionen Franken, zahlte aber durchschnittlich 3 Milliarden an Boni aus. Doch der eigentliche Startschuss der Exzesse erfolgte Jahre zuvor.
22. Mai 2023 • Beat Schmid

Das Bankgeschäft ist ein Zahlengeschäft. Gewinn, Rendite, verwaltete Vermögen, Eigenkapital­decke, Bonustopf – alles, was wichtig ist, wird in Zahlen ausgedrückt. Wer begreifen will, warum die Credit Suisse gescheitert ist, muss sich mit den Zahlen beschäftigen.

Betreiben wir also ein bisschen number crunching.

Wer die Bonus­zahlungen der letzten 13 Geschäftsjahre zusammen­rechnet, kommt auf eine Summe von 39 Milliarden Franken. Dividiert man diese Zahl durch die durchschnittliche Anzahl Mitarbeiter, die in dieser Zeit bei der Bank beschäftigt waren, macht das rund 780’000 Franken Bonus pro Person.

Von den 13 Geschäfts­jahren endeten 5 mit einem Verlust – kumuliert betrugen die Verluste 15,5 Milliarden Franken. In den anderen 8 Jahren erwirtschaftete die Bank Gewinne von total 20,6 Milliarden Franken. Netto ergibt das in 13 Geschäfts­jahren einen Gewinn von 5,1 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Das ist etwa die Hälfte dessen, was die Zürcher Kantonalbank in der gleichen Zeit verdiente – ohne je aus der Gewinnzone gefallen zu sein.
Was sagt uns diese Zahlen­schieberei? Dass man kein Bankenexperte sein muss, um zu verstehen, dass bei der Credit Suisse einiges schief­gelaufen ist. Und dass dem Führungs­personal offenbar jeglicher Sinn für nachhaltige Geschäftsführung verloren ging. Wer in 13 Geschäftsjahren im Schnitt 390 Millionen Franken verdient, aber durchschnittlich 3 Milliarden an Boni auszahlt, lebt über seine Verhältnisse.

Die CS konnte sich diesen Exzess nur leisten, weil sie fast ihr ganzes Immobilien­portfolio verkaufte, mehrere Kapital­erhöhungen durchführte und immaterielle Werte wie ihre Betriebs­software aufwertete. Man muss es so sagen, wie es ist: Die Bank konnte sich die Milliarden­boni nur leisten, weil sie ihre Substanz aushöhlte.

"Abzocker sind Angestellte, die Verluste erwirtschaften und dessen ungeachtet für sich selber Boni fordern. Ich halte das für unanständig", sagte Banker Oswald Grübel nach der CS-Rettung in einem Interview im "Blick".

Doch wenn Grübel über Boni spricht, ist Vorsicht geboten.

Oswald Grübel war es, der in den frühen Nullerjahren bei der CS zusammen mit Walter Kielholz – Grübel war CEO, Kielholz Verwaltungsrats­präsident – eines der spektakulärsten Bonus­programme überhaupt einführte. Der 2004 lancierte sogenannte Performance Incentive Plan – kurz: PIP – enthielt einen Multiplikator, der dazu führte, dass bei Erreichen gewisser Ziele rund 400 CS-Manager 5 Jahre später einen Extrabonus von 3 Milliarden Franken kassierten. Allein 70,9 Millionen Franken gingen auf das Konto von CEO Brady Dougan, der 2007 auf Grübel folgte. Jeder CS-Manager erhielt im Durchschnitt 7,5 Millionen Franken.

Der PIP ging in die Geschichte ein und war einer der Gründe, warum Thomas Minder die Abzocker-Initiative lancierte, die 2013 von einer Mehrheit der Schweizer Stimm­bevölkerung angenommen wurde.

Was man Grübel zugutehalten könnte: Wenigstens sprudelten damals die Gewinne noch. In den Jahren 2005, 2006 und 2007 erreichte die CS einen kumulierten Reingewinn von 24,9 Milliarden Franken. Der Ertrag (Umsatz) der Bank belief sich in dieser Zeit auf 98,3 Milliarden Franken.

Kielholz rechtfertigte sich für die umstrittenen PIP-Bonus­zahlungen im Jahr 2012 in einem Interview in der "Luzerner Zeitung" mit den Worten: "Man war unter Zugzwang, weil in der ganzen Branche aggressive Zustände herrschten." Die Zeiten von hohen Löhnen seien nun aber vorbei, unter anderem wegen der geringeren Profitabilität. "Seit zwei, drei Jahren arbeiten wir an einer Korrektur der Vergütungs­systeme und der Vergütungs­niveaus", sagte Kielholz weiter. "Aber wir sind erst auf dem Weg dorthin."

Es waren leere Versprechungen. Selbst jetzt noch wird um Boni gefeilscht. Im CS-Katastrophen­jahr 2022 bewilligte der Verwaltungsrat 1 Milliarde Franken für variable Entschädigungen. Um Leute zu halten, schüttete die Bank Upfront-Boni aus und zahlte Bleibeprämien für Investment­banker. Die Bankleitung wollte für sich einen Transformation Award genehmigen lassen, den sie erst kurz vor der Generalversammlung diesen April zurückzog. Und während die Bank auf dem Sterbebett liegt, wird weiter ungehemmt um Boni gestritten. CS-Banker, die auf null abgeschriebene AT1-Anleihen als Bonus erhalten haben, wollen den Totalausfall nicht hinnehmen und erwägen Klagen.

Wo eigene Gesetze gelten

Woher kommt diese Gier nach immer mehr Geld? Der Ursprung der Bonuskultur liegt in der amerikanischen Finanz­industrie der 1980er-Jahre, als die Deregulierung der Märkte und die Entwicklung neuer Finanz­instrumente den Handel mit Wertpapieren revolutionierten. In diesem Klima entstanden auch neue Entschädigungs­modelle, die die individuelle Leistung und Ertragsziele ins Zentrum stellten. Der Gedanke dahinter war, dass Mitarbeiter durch hohe Boni motiviert werden und dadurch bessere Ergebnisse erzielen.

Vom Banking frassen sich die Boni in andere Branchen hinein. Inzwischen ist die Bonuskultur ein fester Bestandteil der Arbeitswelt und nicht mehr wegzudenken. Kaum eine grössere Firma, die nicht auf variable Vergütungen setzen würde. Die Bonikultur machte auch vor der Medienbranche nicht halt: Die TX Group und die CH-Media-Gruppe verfügen über ein Bonussystem für Kader­mitarbeiterinnen und Journalisten.

CH-Media-Verleger Peter Wanner sagte in einem Interview, dass auch sein Unternehmen Boni eingeführt habe. "Nach dem Debakel der Credit Suisse müssen wir ernsthaft prüfen, ob wir nicht die ganze Bonikultur abschaffen wollen. Sie ärgert mich schon lange." Es sei eine "Unkultur". Und weiter: "Am Beispiel der CS sieht man sehr schön, wie Boni falsche Anreize schaffen, die Geldgier fördern und die Risikofreude massiv erhöhen."

Doch ein Unterschied bleibt. Während in der Realwirtschaft Boni in der Regel gestrichen werden, wenn das Unternehmen einen Verlust einfährt, wird bei Banken auch im Krisenfall das Füllhorn über den Mitarbeitenden ausgeschüttet.

Der Zürcher Wirtschafts­historiker Tobias Straumann stellte bereits 2017 fest, dass die Finanz­industrie es schaffte, Massstäbe zu setzen, die im normalen Leben nicht gelten. "Dekadent" seien die Zeiten nicht, meinte er. Aber es zeige sich, dass die "Bankenbranche nach Gesetzen funktioniert, die für die meisten Menschen nicht nachvollziehbar sind". Der Grossbanken­sektor geniesst laut Straumann seit etwa dreissig Jahren eine Sonderstellung, die nicht nur in der Schweiz für Irritation sorgt.

Den Bankern die Boni zu streichen, das wagt in der Schweiz kaum jemand mehr. Selbst die Regulatoren scheiterten. Daniel Zuberbühler war Chef der Eidgenössischen Banken­kommission, der Vorläufer­organisation der Finanzmarkt­aufsicht Finma. Als im Februar 2008 bekannt wurde, dass die UBS trotz Staatsrettung ihren Mitarbeiterinnen 2 Milliarden Franken Boni auszahlen wollte, kam auch seine Behörde unter Druck.

Ein sofortiger Boni­entzug kam für Zuberbühler jedoch nicht infrage. "Diese Finanzbranche wird sich sicher nicht von einem auf den anderen Tag völlig wandeln. Das ist fast wie Drogen­entzug – das passiert auch nicht von einem Tag zum anderen", sagte er gegenüber Radio SRF.

Lieber Bargeld statt Aktien

Bei der Credit Suisse erfolgte der Startschuss der Exzesse im Jahr 1997. Damals gab sich die Grossbank eine neue Struktur. Aus der CS Holding wurde die Credit Suisse Group. "Die Kreditanstalt wurde auseinander­gerissen und das ganze internationale Geschäft wurde den amerikanischen Investment­bankern in die Hände gelegt", sagte der damalige CS-Chef Josef Ackermann kürzlich in einem Interview bei "NZZ-Standpunkte". Dann sei eine andere Kultur und Philosophie in die Bank hineingekommen.

Im Investment­banking übernahm der Amerikaner Allen Wheat die Leitung. Unter ihm wurden angelsächsische Entschädigungs­modelle eingeführt: "Der Satz: ‹Ich mache euch reich› war ein geflügeltes Wort und hat dazu geführt, dass man Leute um sich geschart hat, die primär Geld wollten", erinnert sich Ackermann, der die Bank 1996 nach Meinungs­verschiedenheiten verliess und zur Deutschen Bank nach Frankfurt wechselte.

Die Schilderungen von Ackermann decken sich mit denen von Personen, die zu jener Zeit ebenfalls bei der CS beschäftigt waren. Ein inzwischen frühpensionierter Banker erinnert sich gut an den Moment, als er den ersten Bonus bekam.

Reto Hufschmid, der in Wirklichkeit anders heisst, war 1996 ein junger, erfolgreicher Banker, der im Schweizer Aktienhandel tätig war und ein Team von 40 Leuten führte. "Zuvor habe ich eine Kaderzulage bekommen, die jeweils 6000 oder 7000 Franken betrug. Doch auf einmal bekam ich 50’000 Franken. Das war mein erster Bonus." Im dritten Jahr stieg sein Bonus bereits auf 200’000 Franken.

Für Hufschmid bedeutete der plötzliche Geldsegen auch Stress: Die 200’000 Franken wurden damals in gesperrten Aktien bezahlt, mussten aber im Zuteilungs­jahr voll versteuert werden. Das hatte zur Folge, dass viele seiner Kollegen sich verschulden mussten, um ihre Steuern zu bezahlen. Das Geniale für die Bank war: Die CS stellte die dafür nötigen Kredite zur Verfügung. Banker wie Hufschmid konnten also ihre Boni belehnen, um ihre Steuern zu bezahlen, ein neues Auto zu kaufen oder um dick in die Ferien zu fliegen. An den Krediten wiederum verdiente die CS.

Noch etwas anderes war möglich: Die Banker konnten auf ihren CS-Aktien – jetzt wird es kurz technisch – Call-Optionen verschreiben und damit Puts kaufen. Damit partizipieren sie zwar nicht mehr am Kursgewinn, aber sie waren gegen einen Kursverfall geschützt. Denn der Vorteil war: Wenn der Kurs der Aktie nach der Zuteilung in den Keller rasselte, konnte man – trotz Verlusten – gelassen zuschauen, weil die Aktien gesperrt waren. Zudem waren sie bereits versteuert.

In der Folge schraubte die Bank mehrfach an ihrem Bonus­system. Die Möglichkeit, Call-Optionen auf den Aktien zu verschreiben, wurde bald wieder aufgehoben. Besonders einfallsreich zeigte sich CEO Brady Dougan: In den Krisen­jahren nach 2008 verpackte er Subprime-Kredite zu Bonus­komponenten und verteilte sie mit einem Abschlag als Bonus an hohe Kader. Auch Reto Hufschmid griff zu und strich später, als der Wert der Papiere wieder zulegte, einen schönen Gewinn ein.

Eine grosse Änderung gab es im Jahr 2009, als die Bank die Fixlöhne anhob. Auch hier profitieren die Schweizer Banker von der Entwicklung in den USA. Damals reiste Hufschmid in die USA und rechnete seinen Chefs vor, dass man alle Jobs in seinem Bereich von New York und London nach Zürich verlagern sollte. Denn in der Schweiz verdienen Portfolio­manager deutlich weniger als in den USA und Grossbritannien: 200’000 statt 500’000 Franken.

"Die Chefs fanden das gar nicht lustig und man entschied, die Löhne in der Schweiz nach oben anzupassen", sagt er. Vielen sei klar gewesen, dass das ein dummer Entscheid war, denn wenn die Fixlöhne steigen, kann eine Bank die Kosten nicht schnell genug senken, wenn die Erträge einbrechen. Hufschmid findet, dass das alte Bonus­system seine Vorzüge hatte.

Das Wichtigste sei, dass man nur dann Bonus bezahlt, wenn es etwas zu verteilen gibt, sagt er. Spätestens 2012 wurde auch diese Regel niedergerissen. Hohe Fixlöhne und Boni bei Verlusten wurden zum Standard. Dass die Banker auch ganz oben in der Bank keine Lust hatten, das zu ändern, zeigte sich bei einem Besuch, den Hufschmid bei Urs Rohner machte.

Hufschmid, zwischenzeitlich die Karriere­leiter hochgeklettert, wurde eingeladen, den Verwaltungsrats­präsidenten auf kritische Fragen vorzubereiten, die Aktionäre an der General­versammlung stellen könnten. Im Büro von Rohner am Paradeplatz kam es zu folgendem Dialog:

Hufschmid: "Herr Rohner, wie rechtfertigen Sie Ihren hohen Lohn, wenn das Unternehmen einen Verlust schreibt und die Aktionäre nur verlieren?"

Urs Rohner: "Soft Factors, Herr Hufschmid!" (Gemeint ist, dass neben Finanzzahlen auch Faktoren wie Stimmung, Verhalten oder Image eine Rolle spielen.)

Hufschmid: "Herr Rohner, warum beziehen Sie Ihr Honorar nur in Bargeld und nicht in Aktien?"

Urs Rohner: "Wissen Sie, meine Familie hat schon so viele CS-Aktien."

Rohner trat vor zwei Jahren als Präsident der Credit Suisse zurück. In zehn Jahren erhielt er ein Salär von rund 42 Millionen Franken, über 30 Millionen davon wurden bar ausbezahlt, der Rest in Aktien. Bis jetzt hat er sich nicht zum CS-Kollaps geäussert. Bisher gibt es keine Informationen darüber, ob er etwas von seinen Millionen zurückzahlen wird.


Beim vorliegenden Artikel handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung eines Textes, der zuerst im Online-Magazin Republik erschien.