ESG-Litigation
Wer falsche Angaben zu Nachhaltigkeitsaspekten macht, kann sich rechtliche Probleme einhandeln. ESG-Litigation-Experte Matthias Gstoehl schätzt die Lage in der Schweiz ein und sagt, in welchen Bereichen es vermehrt zu Klagen kommen kann.
14. September 2023 • Beat Schmid

Anfang Juli reichte der Konsumentenschutz Beschwerden gegen Coca‑Cola Schweiz, Hipp, Swisscom und fünf weitere Unternehmen ein. Die insgesamt elf Beschwerden richten sich gegen die Klima-Werbeaussagen dieser Unternehmen: acht Beschwerden auf Grundlage des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) beim Seco, drei Beschwerden bei der Schweizerischen Lauterkeitskommission (SLK) wegen unlauterer Werbung einreichen. Solche Beschwerden sind der Anfang. Kommt eine Klageflut auf die Schweiz zu?


Bisher kam es in der Schweiz erst zu wenigen Prozessen in Zusammenhang mit ESG. Das könnte sich ändern. Warum?

Matthias Gstoehl: Es ist eine Kombination verschiedener Faktoren. Zum einen wurden erst mit der Einführung der Berichterstattungs- und Transparenzpflichten verbindliche Pflichten eingeführt aus dem Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative. Diese neuen Pflichten müssen nun für das Geschäftsjahr 2023 erstmals umgesetzt werden. Aber auch auf Klägerseite hat die «Klagefreudigkeit» zugenommen. Gerade im Bereich Klimaschutz haben Kläger professionelle Unterstützung erhalten, etwa durch NGOs. Auch Konsumenten werden aktiver.

Welche konkreten rechtlichen Risiken gibt es für Schweizer Firmen in Zusammenhang mit ESG?

Es gibt eine ganze Reihe rechtlicher Risiken und möglicher Sanktionen. Fehlende oder falsche Berichterstattung kann zu Bussen führen. Was viele auch nicht wissen: für falsche oder unvollständige Angaben – wie beispielsweise Aussagen zu ESG in öffentlichen Bekanntmachungen oder Berichten – können Mitglieder der Geschäftsführung oder des Verwaltungsrats im schlimmsten Fall mit Freiheits- oder Geldstrafe bestraft werden. Irreführende, täuschende oder falsche ESG-Aussagen können aber auch unlauteres Wettbewerbsverhalten darstellen. Dies birgt auch das Risiko von Freiheits- oder Geldstrafen.

Doch nicht nur strafrechtlich bestehen Risiken, es gibt auch zivilrechtliche: Investoren können gegenüber Unternehmen – je nach Konstellation auch gegen den Verwaltungsrat – klagen, wenn sie durch unrichtige oder irreführende ESG-Kommunikation geschädigt worden sind. Betroffene, die keine Investoren sind, können im Bereich ESG ebenfalls klagen, wie beispielsweise das Verfahren indischer Bauern gegen Syngenta wegen des Verkaufs von Pestiziden illustriert.

Bei unrichtiger oder irreführender ESG-Kommunikation eines Unternehmens können auch Dritte wie Konkurrenten, Konsumentenschutzorganisationen oder Behörden Unterlassungsansprüche und/oder Schadenersatz oder Gewinnherausgabe verlangen. Oder Beschwerden bei der Schweizerischen Lauterkeitskommission (SLK) wegen unlauterer Werbung einreichen. Speziell am Verfahren vor der SLK ist, dass dieses kein eigentliches Gerichtsverfahren ist, jedoch nicht minder einschneidende Reputationsrisiken bergen kann.

Welche Risiken gibt es schon länger, welche sind neu?

Der aktuelle öffentliche Diskurs ist primär auf das «E» von ESG fokussiert, wie zum Beispiel Klagen im Zusammenhang mit schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt zeigen. Vermehrt werden aber auch Fälle bekannt, bei denen die «S»-Themen im Vordergrund stehen. Anders als in der EU, USA, Kanada oder Australien sind in der Schweiz allerdings bisher nur wenige Klagen in Zusammenhang mit dem «E» und «S» von ESG bekannt, also im Zusammenhang mit Verstössen zulasten der Umwelt oder der Arbeitnehmer oder Bevölkerung. Hierzulande sind Verfahren im Zusammenhang mit «G» verbreiteter, etwa die Strafverfolgung von Unternehmen wegen Korruption. Wir erwarten jedoch, dass sich dies in der Schweiz analog den Entwicklungen im Ausland ändern wird. Wir rechnen auch damit, dass mit zunehmendem Fokus auf der Lieferkette (Due Diligence) vermehrt auch Korruption zum Thema werden könnte.

Sind die Firmen genügend gut vorbereitet, um ESG-Risiken zu erkennen?

Vielen Firmen ist noch zu wenig bewusst, wie die umfassenden Berichterstattungspflichten konkret umzusetzen sind und dass diese über die bisher publizierten Nachhaltigkeitsberichte hinaus gehen. Das sehen wir in unserer Beratungstätigkeit immer wieder. Beispielsweise reicht es nicht aus, nur das eigene Unternehmen anzuschauen. Es müssen auch alle kontrollierten Unternehmen erfasst sein wie Tochtergesellschaften oder abhängige Zulieferer. Es muss wirklich die gesamte Up-stream-Wertschöpfungskette analysiert werden. Das ist in vielen Fällen nur sehr schwer umsetzbar.

Eine weitere Gefahr, die wir immer wieder sehen, besteht darin, dass es die Unternehmensführung versäumt, sämtliche betroffenen Geschäftsbereiche eines Unternehmens in die ESG-Thematik einzubinden. Werden zum Beispiel Produkte als besonders nachhaltig angepriesen, so muss eine solche Aussage gründlich auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Dazu braucht es Input von verschiedenen Stellen: der Produktentwicklungsabteilung, des Einkaufs (um zu prüfen, woher die Bestandteile stammen und wie die Lieferkette aussieht), der Finanzabteilung, der Kommunikationsabteilung usw. Wenn die einzelnen Abteilungen nicht miteinander sprechen, entstehen gefährliche Silo-Effekte.

Wie können sich Firmen am besten gegen ESG-Klagen schützen?

Der Ausgangspunkt ist die angemessene Einschätzung der ESG-Risiken. Ein Unternehmen muss in der Lage sein, alle relevanten Informationen zu konsolidieren und die neu geschaffenen Offenlegungs- und Sorgfaltspflichten in die Berichte einzubetten. Der Schlüssel liegt darin, die bereits erwähnten Siloeffekte zu verhindern. Deshalb müssen wesentliche Informationen korrekt verarbeitet, weitergegeben und -verarbeitet werden können.

ESG muss inhärenter Teil der Unternehmensstrategie werden, quer über alle Abteilungen hinweg. Im Verwaltungsrat bietet sich beispielsweise auch an, ein ESG-Committee einzuführen, anstatt das Thema «nur» vom Audit Committee behandeln zu lassen. Letzten Endes kann all dies nur durch eine gute und ordnungsgemässe Governance sichergestellt werden. Das «G» in ESG ist also in gewisser Weise ein Garant für den richtigen Umgang mit allen ESG-Risiken.

Welches sind die grössten Risiken, die sich für Finanzintermediäre ergeben?

Die Finma bewilligt und beaufsichtigt schweizerische kollektive Kapitalanlagen und achtet dabei insbesondere auf die Nachhaltigkeitsinformationen. Sie prüft auch, wie angemessen die Organisationsstruktur von Institutionen ist, die nachhaltigkeitsbezogene kollektive Anlagen verwalten. Banken müssen unter Umständen jährlich Informationen darüber offenlegen, wie sie klimabezogene finanzielle Risiken managen. Wer gegen Aufsichtsrecht verstösst, droht schlimmstenfalls die Bewilligung zu verlieren.

Die Schweizerische Bankiervereinigung hat Richtlinien für Mindeststandards erlassen, um in der Anlageberatung ESG-Präferenzen und -Risiken zu berücksichtigen. Ausserdem hat die Schweizer Asset Management Association Vorschriften erlassen, um Qualität des Managements und der Positionierung nachhaltiger kollektiver Vermögenswerte sowie Transparenz sicherzustellen. Beide Regelwerke sind zwar noch nicht Teil der Selbstregulierung, wie sie die Finma anerkennen oder bewilligen kann. Es ist aber davon auszugehen, dass die Behörde sie bei der Beurteilung der Einhaltung der geltenden aufsichtsrechtlichen Bestimmungen, insbesondere des FIDLEG berücksichtigen wird.

Welche Art von Klagen steht bei Finanzinstituten im Vordergrund? Greenwashing?

Ja. Wir müssen uns jedoch darüber im Klaren sein, dass der Begriff nicht nur Banken betrifft und mehr als nur Aussagen umfasst, wie «grün» oder «ökologisch» ein Produkt ist, sondern entwickelt sich zu einem Sammelbegriff für jegliche Diskrepanz zwischen dem Marketing-Versprechen und der Wirklichkeit eines Produktes oder einer Dienstleistung.

In den USA werden Finanzinstitute von zwei Seiten ins Visier genommen. Auf der einen von Umweltaktivisten, die deklarierte Reduktionsziele einfordern. Auf der anderen Seite von rechten Kreisen, die Boykotte gegen Banken anstrengen, die eine grüne Agenda verfolgen. Wie sollen sich Firmen in diesem Spannungsfeld positionieren?

Dies führt bisweilen dazu, dass Unternehmen Nachhaltigkeitsbemühungen anstellen, darüber aber nicht kommunizieren. Diese Strategie wird zum Beispiel verfolgt, um rufschädigende Kritik an ihren Nachhaltigkeitsbemühungen zu vermeiden. Das ist das Phänomen des sogenannten Greenhushings. Global tätige Unternehmen werden aber zusehends dazu gezwungen, aufgrund der sogenannten Extraterritorialität nationale ESG-Gesetzgebungen einzuhalten, gerade im Zusammenhang mit der EU-Gesetzgebung.

Könnte dieser ESG-Backlash auch nach Europa oder in die Schweiz überschwappen?

Meine Einschätzung ist, dass hier die EU-Gesetzgebung zu weit fortgeschritten ist. Möglich ist auch, dass gewisse Aspekte weniger stark ausgefochten werden, aber der Trend geht grundsätzlich in Richtung der Akzeptanz, gerade auch wegen der EU.

Matthias Gstoehl ist Partner bei der Kanzlei Lalive und ist spezialisiert auf Verfahren und Untersuchungen mit Schwerpunkt Banking und Finance, Wirtschaftskriminalität, Asset Recovery sowie ESG-Themen.