Das erste Produkt von Nestlé war ein Milchpulver mit dem Namen «Farine Lactée». Henri Nestlé brachte das Nahrungsmittel für Neugeborene 1867 auf den Markt. Es bestand aus Milch, Weizenmehl und Zucker. Der Nestlé-Gründer entwickelte es als Alternative für Mütter, die ihre Säuglinge nicht stillen konnten. Das Milchpulver legte den Grundstein für das Wachstum und den Erfolg von Nestlé als Unternehmen.
Heute verkauft der Konzern das «Kindermehl» unter dem Markennamen Cerelac. Nahrung für die Kleinsten ist nach wie vor einer der grössten Umsatzbringer – neben Nespresso-Kapseln und Kitkat, neben Hundefutter und Suppenwürfel. Insgesamt bietet Nestlé etwa 2000 Produkte an. Darunter internationale Top-Brands wie Maggi, Nescafé oder Perrier. Aber auch viele lokale Marken - in der Schweiz etwa Henniez, Leisi oder Cailler.
Doch der Absatz stottert. Die Inflation nach Corona hat sich tief ins Haushaltsbudget gefressen. Die Konsumenten sind von teuren Markenprodukten auf billigere Eigenmarken umgestiegen. Das macht nicht nur Nestlé das Leben schwer, die für ihre Produkte oft den doppelten Preis verlangt. Ähnliche Probleme haben auch Unternehmen wie Unilever oder Danone. Doch kaum eines hat es so hart getroffen wie Nestlé.
An der Börse wurde der Konzern in den letzten Monaten hart abgestraft. Der zurücktretende CEO Mark Schneider konnte einem leid tun. Mehrmals musste er die Prognosen nach unten korrigieren. Schnell war vergessen, dass der deutsche Manager vieles richtig gemacht und Impulse gesetzt hatte, die den Konzern nach vorne brachten.
Hinzu kamen Skandale und Prozesse: Mit E-Coli verseuchte Tiefkühlpizzen oder illegal aufbereitetes Mineralwasser aus Frankreich. Ein Flop war der Kauf des Biopharma-Unternehmens Aimmune, das mit einem zunächst vielversprechenden Medikament gegen Erdnussallergie scheiterte.
Eiskalt abserviert
Am Donnerstag kam es zum Eklat. Der Verwaltungsrat hat Mark Schneider eiskalt abserviert. Der Belgier Paul Bulcke, Verwaltungsratspräsident und ehemaliger CEO, sprach in einer Telefonkonferenz von «turbulenten Zeiten» und davon, dass Nestlé ihre Position als «verlässliches Unternehmen» stärken müsse. Es sind verstörende Töne, die aus dem geschwungenen Verwaltungsgebäude in Vevey nach draussen dringen.
Mit Laurent Freixe hat Bulcke einen langjährigen Weggefährten installiert, der eine ähnliche Karriere gemacht hat wie er selbst. Beide waren lange Jahre für Nestlé auf dem amerikanischen Kontinent tätig. Der 62-jährige Freixe wurde in Paris geboren und studierte an einer französischen Eliteuniversität. Wer ihn kennt, beschreibt ihn als trockenen Zahlenmenschen ohne Charisma. Paul Bulcke wird in zwei Wochen 70 Jahre alt. Ob die beiden Herren im Grossvater-Alter junge Mütter und Väter für Babynahrung begeistern können?
Die Skepsis ist gross, ob das gelingt. Der Aktienkurs reagierte jedenfalls nicht wie sonst bei CEO-Wechseln üblich mit einem Sprung nach oben, sondern mit einem unerwarteten Rutsch nach unten. Am Freitag verlor die Aktie vier Prozent, erholte sich aber im Laufe des Tages wieder. Das lag auch daran, dass Mark Schneider bei den Investoren nach wie vor einen guten Ruf geniesst. Offenbar sahen die Anleger in seinem Abgang auch Nachteile für Nestlé.
Konzeptlos und fahrig
Gut möglich, dass der Boden noch nicht erreicht ist, dass die Talfahrt weitergeht. Der Auftritt von Bulcke und Freixe an der Investorenkonferenz wirkte irritierend konzeptlos und fahrig. Sie konnten nicht sagen, wie sie den Erfolg zurückholen wollen. «Wir müssen zu den Basics zurückkehren», sagte Bulcke. Die Truppen sammeln, eine Einheit bilden und motivieren. Was man jetzt brauche, seien Erfahrungen aus dem Schützengraben.
Freixe sagte, Nestlé müsse effizienter werden, gleichzeitig aber auch in die Produkte investieren und auf die Kunden hören. Aber wie soll das gehen, gleichzeitig sparen und investieren? Das war ein kommunikativer Fehlstart. Nicht das Niveau, das man von einem Weltkonzern wie Nestlé erwartet.
Aber auch globale Megatrends spielen gegen den Megakonzern. Hochverarbeitete Lebensmittel und Fertigprodukte, mit denen Nestlé Milliardenumsätze macht, stehen immer weniger auf den Poschtizetteln der Familien. Wer schiebt sich heute noch eine Tiefkühlpizza in den Ofen? Buchstäblich auf den Magen schlägt Nestlé aber der Hype um Abnehmspritzen. Weil Präparate wie Wegovy und Ozempic den Appetit von Übergewichtigen zügeln, essen sie einfach weniger.
Nestlé musste kürzlich die Krone des wertvollsten Schweizer Unternehmens an den Basler Pharmakonzern Roche abgeben. Auch in der Weltrangliste ist das Unternehmen wegen der hausgemachten Misere auf Platz 35 abgerutscht. Eine Schmach für das Unternehmen, das 270’000 Personen beschäftigt und seine Produkte in 189 Ländern liefert.
Viel Zeit für einen Turnaround bleibt nicht. Laurent Freixe und Paul Bulcke wollen in der Zeitmaschine zurück in die Zukunft. Ob es ein Happy End wie im Hollywood-Blockbuster gibt, wird sich zeigen. Klar ist: Stellt sich der Erfolg nicht bald ein, ist Bulcke der nächste, der gehen muss.
Der Autor schreibt regelmässig für den Sonntagsblick. Dort wurde der vorliegende Artikel am 25.8.2024 zuerst publiziert.