Die oberste Bankleitung von Raiffeisen in St. Gallen nahm ihre Überwachungs- und Kontrollfunktion nicht genügend wahr. Hätte sie das getan, wäre Pierin Vincenz bereits 2009 aus dem Amt katapultiert worden. Eine Schlüsselrolle spielte der damalige Präsident von Raiffeisen Schweiz, Franz Marty. Der frühere Schwyzer CVP-Politiker war zwischen 2002 und 2011 Vincenz' Vorgesetzter.
Die Rolle von Franz Marty wurde bisher kaum beleuchtet. Wie aus der inzwischen berüchtigten Anklageschrift im Fall Vincenz hervorgeht, schritt der damalige Präsident an entscheidender Stelle nicht ein. Franz Marty deckte seinen CEO sogar. Aus damaliger und heutiger Perspektive ist dieses Verhalten nicht nachvollziehbar.
Ein schneller, risikoloser Gewinn
Es geht um den ersten fragwürdigen Deal, den Pierin Vincenz mit Beat Stocker, dem damaligen CEO der Aduno, durchzog. Die beiden kontrollierten verdeckt das Zuger Finanzvehikel I-Finance (IFM). Diese Gesellschaft nahm eine Beteiligung von 60 Prozent an der Kartenfirma Commtrain Card Solutions (CCS).
Vor seinem Einstieg bei Commtrain machte Vincenz eine Kooperation mit Aduno zur Bedingung. Nachdem diese zustande gekommen war, stieg Vincenz im November 2005 via IFM mit 750’000 Franken bei CCS ein. Bereits wenige Monate später begannen die Verkaufsverhandlungen mit Aduno. Im März gab es die erste Offerte. Im August 2006 wurde der Kaufvertrag unterzeichnet. Im April wurden Vincenz 1,7 Millionen Franken überwiesen. Ein schneller, risikoloser Gewinn.
Vincenz, der neben seinem Posten als CEO der Raiffeisen damals auch Verwaltungsratspräsident von Aduno war, sowie Beat Stocker als CEO der Firma, verheimlichten ihre Beteiligung an Commtrain gegenüber dem Verwaltungsrat des Zahlungsabwicklers. Aduno wird von mehreren Banken kontrolliert, Raiffeisen ist mit 25 Prozent der grösste Aktionär. Namhafte Anteile besitzen ZKB (14%) und Migros Bank (7%).
Medienanfrage sorgte für Nervosität
Bald tauchen erste Gerüchte auf, dass bei dem Kauf von Commtrain möglicherweise nicht alles mit rechten Dingen zuging. Eine präzise Medienanfrage Anfang 2009 zum verdeckten Commtrain-Deal via IFM sorgte für Nervosität in der Raiffeisen-Zentrale. Für Pierin Vincenz wurde die Sache brenzlig, weil er schon wegen seines hohen Salärs, Helikopter-Flügen und seines Chauffeur-Spleens zunehmend unter Druck stand. Vincenz heckte mit Beat Stocker und dem PR-Berater Christoph Richterich eine Kommunikationsstrategie aus. Richterich ist mitangeklagt im Prozess (allerdings nicht wegen seiner Rolle im Commtrain-Deal).
Laut Anklageschrift entschlossen sich die drei zu folgendem Vorgehen: Vincenz sollte gegenüber dem Aduno-Verwaltungsrat sagen, er habe Commtrain lediglich ein Darlehen von 750’000 Franken gewährt, das er mit Zinsen zurückerhalten habe. Er sei nie Aktionär der Commtrain gewesen und habe von der Transaktion nicht profitiert. Stocker wollte ausführen, er habe seine Firma IFM lediglich als Gefäss für internationale Investoren zur Verfügung gestellt, die darüber 60 Prozent der Commtrain-Aktien erworben hätten. Das war frei erfunden.
Den Auftrag für das Gutachten schrieb Forstmosers Kollege
Dazu wurde der angesehene Rechtsprofessor und Anwalt Peter Forstmoser beauftragt, ein Gutachten über das Verhalten von Vincenz zu erstellen. Den Auftrag für das Gutachten formulierte Forstmosers Kanzlei-Kollege Peter Honegger. Die Gutachterfrage lautete: «Wie ist die Lage von Herrn Dr. Vincenz aktienrechtlich zu beurteilen?» Der Brief ist datiert vom 21. April 2009.
Forstmoser erkannte zwar Interessenkonflikte und war der Ansicht, dass Vincenz die Beteiligung an IFM hätte offenlegen sollen. Doch einen eigentlichen Schaden, der Aduno entstanden wäre, stellte Forstmoser nicht fest. Der prominente Jurist schrieb: «Festgestellt werden konnte auch, dass die Interessen der Aduno durch die (indirekte) Investition von Herrn Vincenz in die CCS in keiner Weise beeinträchtigt wurden.»
Ein «wertloses» Gutachten?
Was ist vom Forstmoser-Gutachten zu halten? «Wertlos» sei es, meinte der Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser schon vor vier Jahren und wurde prompt von Forstmoser deswegen verklagt. Jedoch ohne Erfolg. Es sei deshalb wertlos, schrieb Rutishauser, weil der renommierte Jurist nicht unabhängig gewesen sei. Wie Forstmoser selber zugab, vertrat sein Büropartner gleichzeitig Vincenz als Privatanwalt.
Ein entscheidender Punkt war aber auch, dass Forstmoser die Rolle von Beat Stocker gar nicht untersuchte, obwohl er wusste, dass die beiden den Deal gemeinsam durchzogen. Dass sie gemeinsam vorgingen, lässt Vincenz' passive Haltung in einem anderen Licht erscheinen. Es war für ihn ein leichtes, auf Distanz zu gehen, wenn sein Kompagnon Stocker eine aktive Rolle in der Übernahme-Taskforce spielte.
Am 1. September 2009 schickte Professor Forstmoser das vertraulich deklarierte Gutachten an Franz Marty und Pierin Vincenz. Offenbar kam es danach zu einem Gespräch zwischen den beiden. Das Gutachten «vermochte Marty zu überzeugen, keine Weiterungen zu unternehmen und namentlich keine Meldung an die Aduno zu erstatten», heisst es dazu wörtlich in der Anklage. Gemäss Recherchen habe Marty Vincenz mitgeteilt, die Sache ruhen zu lassen. Er würde aber sofort aktiv werden, wenn es wegen des Deals zu strafrechtlichen Untersuchungen kommen sollte. Zu diesen kam es, allerdings erst viel später, als Marty nicht mehr bei Raiffeisen war.
«Der Umstand, dass Marty nicht reagierte, ist entscheidend in der Vincenz-Saga»
Der Umstand, dass Marty nicht reagierte, ist entscheidend in der Vincenz-Saga. Sein Nichteinschreiten ist hochbrisant, weil Marty seinen CEO für eine Deal deckte, der jetzt Gegenstand eines Strafverfahrens ist, bei dem es unter anderem um Betrug und ungetreue Geschäftsbesorgung geht. Für alle Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung.
Vincenz hat finanziell erheblich profitiert, indem er bei einem Unternehmen einstieg, dass später mit Gewinn an Aduno verkauft wurde. Marty, der die Interessen der Eigner von Raiffeisen Schweiz – immerhin fast 2 Millionen Genossenschafterinnen und Genossenschafter – zu schützen hatte, hätte erkennen müssen, dass er es mit einem CEO zu tun hatte, der seine persönlichen Interessen möglicherweise über jene der Bank stellte.
Doch Marty unternahm nichts. Er informierte niemanden. Er beschloss, zu schweigen. Aus Governance-Sicht hätte er den Verwaltungsrat von Raiffeisen und den Verwaltungsrat von Aduno über dieses Gutachten informieren müssen oder zumindest können. Das tat er nicht. Er zog es vor, zu schweigen.
Jeder Unternehmer hätte Vincenz vor die Tür gestelltMarty hätte sich auch die Frage stellen können, inwiefern er seinem CEO noch vertrauen konnte, wenn diesen hinter seinem Rücken einen eigennützigen Deal durchzog. Jeder Unternehmer würde einen Angestellte bei einem ähnlichen Verhalten vor die Tür stellen. Marty hätte Pierin Vincenz entlassen müssen. Er hätte ihm sagen müssen: «Du, Pierin, da haben wir ein Problem. Ich erwarte, dass Du deine Kündigung einreichst.»
Stattdessen deckte er ihn. Und billigte stillschweigend, dass die Aktionäre von Aduno und damit auch die Genossenschafter von Raiffeisen an der Nase herumgeführt wurden. Und nicht zuletzt die Öffentlichkeit, indem Medienanfragen nicht wahrheitsgemäss beantwortet wurden.
Das Schweigen von Marty stellt einen Wendepunkt dar. Vincenz konnte weitermachen, Deal für Deal, bis er den Bogen überspannte und bei der Compliance-Abteilung der Bank Julius Bär, über die hohe Beträge verschoben wurden, der Geldwäscherei-Alarm losging.
Marty schweigt zu seiner Rolle als VerwaltungsratspräsidentWarum machte Marty das? Das bleibt sein Geheimnis. Der ehemalige Schwyzer Finanzdirektor lebt heute zurückgezogen in Arth-Goldau. Er will sich zur Affäre und seiner Rolle nicht äussern. Am Telefon sagt der 75-Jährige, dass er aus Respekt gegenüber dem Gerichtsverfahren keine Stellungnahme abgeben möchte.
Auch Raiffeisen hüllt sich in Schweigen und will sich zu konkreten Fragen zur Ära Marty/Vincenz «wegen des laufenden Verfahrens nicht äussern».
Dass Gutachten von Peter Forstmoser ist 37 Seiten lang. Es finden sich wenige Stellen, an denen Kritik am Verhalten von Vincenz formuliert wird. Hier sind sie:
«Es wäre meines Erachtens bei einer Ausrichtung auf die Best Practice-Regeln des Swiss Code oder auf mögliches künftiges Recht angezeigt gewesen, über die Beteiligung an der iFM zu informieren, als die Aduno mit dieser Gesellschaft in Übernahmeverhandlungen betreffend die CCS trat, denn nun lagen mögliche Interessenkonflikte zwischen der Aduno als Käuferin einerseits und Herrn Vincenz als (indirektem) Verkäufer andererseits auf der Hand. Immerhin hatte es Herr Vincenz in der Hand, eine Aktualisierung eines solchen Konflikts zu vermeiden, indem er sich einerseits bei der iFM auf seine Aktionärsposition beschränkte und keinerlei Einfluss auf die Vertragsverhandlungen nahm und indem er anderseits auch bei der Aduno die Vertragsverhandlungen nicht direkt beeinflusste.»
«Eine ins Einzelne gehende Auseinandersetzung mit den gesetzlichen Vorgaben wie auch den in Lehre und Praxis entwickelten Regeln für das Verhalten bei Interessenkonflikten führt zum Schluss, dass Herr Vincenz korrekt gehandelt hat, mit einem Vorbehalt: Er hätte entweder bei der Entscheidfindung über die Zusammenarbeit mit bzw. die Akquisition der CCS voll umfänglich passiv bleiben oder aber offenlegen müssen, dass er als Investor indirekt an CCS beteiligt war. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass diese Inkorrektheit einen Einfluss auf den Entscheid gehabt hätte, und es ist zudem zu betonen, dass sie durch das Verhalten im Übrigen – keinerlei Einflussnahme auf einen für die Investoren der CCS günstigen Vertragsabschluss – kompensiert worden ist.»