Demografie
Die jüngsten Lockdowns könnten Chinas Wirtschaft zum Einstürzen bringen – doch noch gravierender sind die Langzeitfolgen auf die Demografie.
20. April 2022 • Beat Schmid

Es sind historische Zahlen: Zwischen 2019 und 2021 ging die Zahl der neugeborenen Babys in China um fast 30 Prozent zurück. Das ist der stärkste Rückgang seit der grossen chinesischen Hungersnot, die zwischen 1959 und 1961 wütete. Letztes Jahr kamen noch 10,6 Millionen Kinder auf die Welt – der tiefste Wert seit der Machtübernahme durch die kommunistische Partei im Jahr 1949.

Der Grund für den drastischen Rückgang sehen Experten in der Corona-Politik der Regierung in Peking. Sie setzte von Beginn der Pandemie auf strikte Lockdowns. Gegenüber der FT sagt Demografiexperte John Wilmoth, der Rückgang der Geburten gegen Ende 2020 sei mit den üblichen saisonalen Schwankungen nicht zu erklären. Für den Leiter der Abteilung für Bevölkerungsentwicklung der Vereinten Nationen sind die Zahlen ein schlagender Beweis für den direkten Einfluss der Pandemiebekämpfung auf die Geburtenraten.

Die Region Hubei mit der Hauptstadt Wuhan, wo als Erstes ein strikter Shutdown verhängt wurde, war mit einem Rückgang um fast 40 Prozent die am stärksten betroffene Provinz Chinas. Aber auch Jiangsu nördlich von Shanghai und die Metropole selbst registrierten starke Geburtenrückgänge in den vergangenen zwei Jahren.

Experten zufolge haben die medizinischen und wirtschaftlichen Ungewissheiten chinesische Paare dazu veranlasst, ihre Familienplanung aufzuschieben oder ganz aufzugeben. Die Zahl der Hochzeiten ist um 12 Prozent zurückgegangen; sie liegt für 2020 bei 8,13 Millionen geschlossenen Ehen. In China werden die meisten Kinder von verheiraten Frauen zur Welt gebracht.

Die niedrigen Geburten- und Heiratsraten werden sich wegen der Zero-Covid-Politik in diesem Jahr noch verschärfen, ist Yi Fuxian von der University of Wisconsin-Madison überzeugt. Viele junge Frauen hätten Angst, schwanger zu werden, weil die Lockdowns kompromisslos durchgesetzt werden. Oftmals sei der Zugang zu medizinischer Versorgung erschwert, sagt er zur FT (Artikel kostenpflichtig).

Mit ihrer strikten Corona-Politik verschärft die Regierung in Peking die ohnehin gravierenden Demografieprobleme zusätzlich. Zwar schaffte sie die 1980 eingeführte Ein-Kind-Politik bereits 2016 ab. Seither gilt eine Zwei-Kind-Politik. Diese wurde erst vor kurzem durch eine Drei-Kind-Politik abgelöst.

Doch die Bemühungen nützen bisher wenig. Eine Trendumkehr ist nicht zu erkennen. Die Menschen in China scheinen sich auf ein Leben mit einem Kind eingestellt zu haben. Für viele Paare bedeutet ein zweites Kind oftmals eine grosse finanzielle Belastung, die sie nicht eingehen möchten.

Gemäss Studien könnte sich die Bevölkerungszahl bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf 730 Millionen nahezu halbieren. Experten halten es für möglich, dass China letztes Jahr den Peak bereits überschritten hat, mehr als zehn Jahren früher, als ihn Uno-Prognostiker erwarteten.

Auch in anderen Ländern gibt es Anzeichen, wonach Lockdowns einen Einfluss die Zahl der Geburten haben. In den USA gingen die Geburtszahlen in den Monaten Dezember 2020 und Januar 2021 zurück. Ab März erholten sie sich dann wieder.

In Deutschland wurden 2021 leicht mehr Kinder geboren. Besonders deutlich stieg die Geburten­zahl in den Monaten Februar bis April. Die in diesen Monaten geborenen Babys wurden nach der ersten Pandemie-Welle in der Zeit der gelockerten Kontakt­beschränkungen gezeugt.

Interessant an den deutschen Zahlen ist auch, dass die Geburten der zweiten und der dritten Kinder besonders deutlich zunahmen, während Zahl der ersten Geburten dagegen nur geringfügig anstieg.

In der Schweiz hingegen ist auf Basis der verfügbaren Zahlen kein Einfluss zu erkennen. Nachdem die Zahl der Geburten in den Jahren 2019 und 2020 marginal geschrumpft war, zeigte sie 2021 deutlich nach oben. Zahlen einzelner Monate liegen aktuell nur bis ins Jahr 2020 vor.

Chinas Wirtschaftswachstum auf unsicherem Fundament
Gerade noch hiess es: Die Wirtschaft in China wächst um 4,8 Prozent. So stark legte das Bruttoinlandprodukt in den ersten drei Monaten zu – weit mehr als die meisten erwartet hatten. Doch in den nächsten Wochen könnte es schwierig werden, das Wachstumsziel für das Gesamtjahr von 5,5 Prozent zu erreichen. In den jüngsten Zahlen jedenfalls sind die Folgen des kompletten Shutdowns der Millionenmetropole Shanghai noch nicht enthalten.

Weil es in etlichen wichtigen Wirtschaftsregionen Chinas in den letzten Wochen Teillockdowns gab, befürchten Prognostiker nun, dass die Wirtschaftsleistung deutlich einbrechen wird. Dazu kommen Unsicherheiten wegen des Ukraine-Kriegs. Die meisten Auguren haben ihre BIP-Prognosen bereits gesenkt. Spuren sind auch in anderen Märkten zu erkennen.

China kämpft gerade mit dem bislang grössten Corona-Ausbruch seit Beginn der Pandemie. Rund zwei Jahre lang konnte die Staats- und Parteiführung die Corona-Zahlen mit ihrer strikten Zero-Covid-Politik niedrig halten. Die Wirtschaft konnte inmitten der Pandemie wachsen – im Gegensatz zu den meisten anderen Volkswirtschaften. Doch die hochansteckende Omikron-Variante stellt die Shutdown-Politik auf die Probe. Langsam scheint die Grossmacht am Ende ihres Corona-Latein angelangt zu sein.