Das erste Halbjahr könnte tiefrot für die Schweizerische Nationalbank ausfallen. Der Grund sind gleichzeitig fallende Preise für Aktien und Anleihen. Die Marktentwicklung konnte ein heftiges Loch in die Währungsreserven von 1,04 Billionen Franken reissen, wie Analyst Meyrick Chapman von Hedge Analystics ausgerechnet hat. Seinen Berechnungen zufolge könnte die Nationalbank in den ersten sechs Monaten dieses Jahres einen Verlust von 120 Milliarden Franken einfahren.
Meyrick Chapman, ein früherer Anleihenstratege der UBS und Porfoliomanager bei Elliott Management, beziffert die Verluste bis jetzt auf 75 Milliarden Franken oder rund 10 des BIP der Schweiz. Per Ende März wies die Notenbank einen Verlust von 36,8 Milliarden Franken auf den Fremdwährungspositionen aus.
Entwickeln sich die Märkte in den verbleibenden Wochen ähnlich weiter wie in den vergangenen Monaten, könnten sich die Verluste auf 120 Milliarden Franken ausweiten (16 Prozent des BIP). Ein Unsicherheitsfaktor seien die Devisenkäufe, welche die Nationalbank in den vergangenen Wochen getätigt habe, wie Chapman in seiner Analyse schreibt, die in der Financial Times erschien.
Schlaflose Nächte für Thomas Jordan?
Bekommt SNB-Präsident Thomas Jordan nun schlaflose Nächte? Eher nicht, glaubt Chapman. Der Grund sind die riesigen Reserven, welche die Nationalbank in den vergangenen Jahren aufgebaut hat. Per Ende 2021 wies die SNB ein Eigenkapital von 204 Milliarden Franken aus. Nach dem Quartalsverlust schrumpfe dieses auf 171,4 Milliarden Franken, wie der Zwischenbericht der SNB zeigt. Kommt es zum Megaverlust von 120 Milliarden im ersten Halbjahr, wie von Champan prophezeit, dann implodiert das Eigenkapital auf 84 Milliarden Franken.
Der britische Finanzspezialist mag recht haben, dass die Nationalbank genügend dicke Polster hat, um massive Verluste zu verdauen. Es würde auch keine Rolle spielen, wenn die Nationalbank ein negatives Eigenkapital ausweist, zumindest wird dies von der SNB-Spitze behauptet. Was Chapman jedoch ausser Acht lässt, sind die regelmässigen Ausschüttungen an Bund und Kantone, die jährlich maximal sechs Milliarden Franken betragen.
Ausschüttungsreserven würden vernichtet
Diese werden aus der sogenannten Ausschüttungsreserve gespeist. Per Ende Jahr betrug diese Reserve 102,5 Milliarden Franken. Kommt es zum Grossverlust per Mitte Jahr, wären die Reserven vernichtet. An der Generalversammlung der SNB Ende April warnte Bankratspräsidentin Barbara Janom Steiner implizit vor einem solchen Szenario.
Der Betrag von 102 Milliarden Franken möge auf den ersten Blick sehr hoch erscheinen angesichts einer jährlichen Maximalausschüttung an Bund und Kantone von 6 Milliarden Franken, sagte sie. Schwächere Aktienmärkte, steigende Zinsen und vor allem ein aufwertender Franken würden das Ergebnis der SNB und damit auch die Ausschüttungsreserve belasten. Dies habe das erste Quartal 2022 mit einem Verlust von 32,8 Milliarden Franken gezeigt.
Ein gut dotierter Puffer sei im Interesse von Bund und Kantonen. "Andernfalls steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Phasen ohne Gewinnausschüttung eintreten, die zudem von längerer Dauer sein können", sagte Janom Steiner. Auch SNB-Präsident Thomas Jordan warnte schon mehrfach vor einem solchen Szenario.
Bei der Nationalbank wird immer erst Ende Jahr abgerechnet. Bis dahin kann sich die Lage auf den Märkten entspannen – oder auch nicht. Kommt es zum Grossverlust von 120 Milliarden Franken per Ende Juni, dann werden Diskussionen über einen möglichen Wegfall der Gewinnausschüttung mit Sicherheit schon dann starten. Für die politischen Kräfte, die mit den SNB-Gewinnen zusätzlich die AHV unterstützen möchten, kommt die aktuelle Marktentwicklung jedenfalls zum schlechtesten Zeitpunkt.