Inkonsistente Klimadaten
Datendienstleister wie MSCI erheben Klimadaten von Tausenden von Firmen. Sie definieren damit, ob ein Unternehmen grün oder braun eingeschätzt wird. Heikel wird es, wenn die Erhebungsmethoden plötzlich angepasst werden.
4. November 2022 • Beat Schmid
Wenn nächste Woche die Klima-Elite nach Sharm el-Sheikh reist, werden Klimadaten eines der zentralen Themen sein. Es steht viel auf dem Spiel: Will die Finanzbranche glaubwürdig sein, braucht sie Instrumente, die verlässliche Nachhaltigkeitsdaten liefern.
Die Datenqualität wird zwar besser und einheitlicher, doch noch immer spucken die Modelle zum Teil widersprüchliche Resultate aus. Misstrauen erwecken auch Methodenänderungen, die ein Unternehmen plötzlich grüner erscheinen lassen.
Von einer Weltneuheit sprach Reto Ringger, Gründer und Chef der Zürcher Privatbank Globalance, als er im November 2020 seine Vision eines Google Earth für die Finanzwelt vorstellte. Globalance World nannte er das Projekt, das Transparenz schaffen soll “hinsichtlich der klimatischen und ökologischen Auswirkungen von Finanzanlagen”, wie der “Tages-Anzeiger” damals notierte.
In der Datenbank von Globalance World sind Klimadaten von weltweit rund 6000 Firmen gespeichert. Über eine digitale Weltkarte, die an Google Earth erinnert, können Investorinnen auf Erkundungsreise gehen und nach Firmen suchen, die eine vorteilhafte Klimabilanz ausweisen und damit in ein nachhaltig ausgerichtetes Aktienportfolio passen.
So erfährt man beispielsweise, dass Petrobras, der Mineralölkonzern aus Brasilien, weit ausserhalb der 2015 in Paris vereinbarten Klimaziele liegt. Diese sehen vor, dass die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter 2 Grad Celsius zu begrenzen ist.
EMS-Chemie und Nestlé fielen durch
Auch die Ems-Chemie im Bündner Rheintal lässt sich mit dem Klima-Google-Earth ansteuern. Beim Start von Globalance World vor zwei Jahren kam der Spezialchemiekonzern auf ein Erwärmungspotenzial von 8,3 Grad und lag damit weit ausserhalb der Pariser Ziele. Auch im Vergleich zu anderen Schweizer Firmen schnitt das Unternehmen schlecht ab. Zum Beispiel gegenüber V-Zug, das auf ein Erwärmungspotenzial von 1,3 Grad Celsius kam. Oder gegenüber der Swisscom mit 1,6 Grad. Durchgefallen war auch Nestlé mit einem Wert von 5,5 Grad. Der Lebensmittelkonzern reagierte damals auf seinen schlechten Wert mit einer Stellungnahme. Er verwies darin auf die eigene Verpflichtung, “bis spätestens 2050 Netto-null-Emissionen in der gesamten Wertschöpfungskette zu erzielen”. Diese eigenen Ziele würden sich nicht in dem von Globalance World entwickelten Bewertungsinstrument widerspiegeln, schrieb Nestlé weiter. Jenes erlaube “keine gänzlich genaue Darstellung der Klimaauswirkungen, die mit unserer Geschäftstätigkeit in Verbindung gebracht werden”.Das war vor zwei Jahren. Und heute?
Wer sich heute bei Globalance World einloggt, stellt fest: Fast alle Firmenwerte haben sich in der Zwischenzeit zum Besseren verändert. Bei den Unternehmen im Swiss Performance Index (SPI), der praktisch alle börsenkotierten Schweizer Firmen aufführt, ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Nestlé, zuvor noch weit ausserhalb des 2-Grad-Ziels, steht plötzlich sensationell gut da. Der Konzern verbesserte sich von 5,2 Grad auf 1,7 Grad und liegt damit nun innerhalb des Pariser Zielbandes. Ems-Chemie zählt laut Globalance World plötzlich nicht mehr zu den umweltschädlichsten Unternehmen im SPI, sondern liegt mit einem Erwärmungspotenzial von neu 3,4 Grad im hinteren Mittelfeld. Auch andere Schweizer Unternehmen kommen neu auf eine wesentlich bessere Klimabilanz. Der Luxusgüterriese Richemont, dem Marken wie Cartier, IWC oder Montblanc gehören, verbesserte sich auf 2,6 Grad, von 4,4 Grad vor einem Jahr. Das Erwärmungspotenzial von Lonza wird neu mit 2,9 Grad angegeben. Vor einem Jahr gehörte der Pharmazulieferer mit einem Wert von 5,9 Grad zu den grössten Klimasündern im SPI. Einige Unternehmen schafften es, wie Nestlé, in die 2-Grad-Zone vorzurücken: Dazu gehören die Pharmariesen Roche (1,7 Grad) und Novartis (1,6 Grad). Nicht nur einzelne Firmen haben sich gemäss Globalance deutlich verbessert. Vor einem Jahr wies der SPI ein Klimaerwärmungspotenzial von 3,8 Grad auf, der deutsche DAX-Index lag bei 4,3 Grad und der US-Aktienindex S&P 500 bei 3,3 Grad. Die Leitindizes haben sich merklich abgekühlt: Der DAX kommt neu auf 2,5 Grad, der S&P 500 auf 2,9 Grad Celsius. Der SPI ist mit einem Erwärmungspotenzial von 2 Grad sogar Paris-aligniert. Sind die Firmen in den letzten 12 Monaten weltweit plötzlich “grüner” geworden? Schonen sie jetzt das Klima besser? Bei einigen Firmen mag das der Fall sein, weil sie beispielsweise umweltschädliche Produktionsmethoden aufgegeben oder “schmutzige” Tochterfirmen verkauft haben. Doch wie schaffte es Nestlé, auf ein Erwärmungspotenzial von nur 1,6 Grad zu kommen, wenn es im Jahr 2018 noch 92 Millionen Tonnen Treibhausgase ausstiess? Inklusive der indirekten Emissionen waren es gar 113 Millionen Tonnen, womit der Westschweizer Grosskonzern mehr als doppelt so viel Kohlendioxid ausstösst wie die gesamte Schweiz. Nein, die Unternehmen sind nicht einfach innert Monaten so viel sauberer geworden. Um sie auf einen Schlag grüner zu machen, reichte eine kleine Anpassung der Methode, die hinter den Klimadaten von Globalance World steht. Diese Methode wurde in der Schweiz entwickelt, vom ETH-Spinn-off Carbon Delta, das inzwischen zum Daten- und Indexriesen MSCI gehört.Änderung der Methode erfolgte im Stillen
Zur Methodenänderung kam es vor einem Jahr. Damals stellte MSCI auf Empfehlung der GFANZ auf die Methode Implied Temperature Rise (ITR) um. Die GFANZ ist eine 2021 in Leben gerufene Net-Zero-Allianz von mehr als 500 meist westlicher Finanzunternehmen. MSCI überarbeitete also ihr altes Modell, das bei Globalance World zu Beginn im Einsatz war. Ein wichtiger Unterschied war, dass die alte Methode die bis 2030 erwartbaren Emissionen als Hauptgradmesser betrachtete. Die von der GFANZ empfohlene Wärmepotenzialmethode hingegen berücksichtigt die Entwicklung bis ins Jahr 2070. Bemerkenswert ist, dass die Modellumstellungen im Stillen erfolgten. Niemand ist hingestanden und hat gesagt, dass jetzt anders gerechnet werde und man auf Grundlage der neuen Kalkulationen ohne schlechtes Gewissen Nestlé-Aktien kaufen könne. Gerade für Kleinanleger sind plötzliche Veränderungen wie bei Ems-Chemie oder Nestlé nicht nachvollziehbar. Wer eine eindeutige Zahl kommuniziere wie beim Erwärmungspotenzial, müsse davon ausgehen, dass private Anlegerinnen diese für bare Münze nehmen, sagt eine Kaderfrau eines kleinen Schweizer Vermögensverwalters. Sehe diese Zahl plötzlich ganz anders aus, gehe Vertrauen verloren. Oliver Marchand, Mitgründer von Carbon Delta und nun leitender Angestellter von MSCI, kann diese Kritik nachvollziehen: “Ich kann verstehen, wenn man sich fragt, was der Wert einer Metrik ist, die nach zwei Jahren neue Zahlen zeigt”, sagt er. Er glaube aber, dass die Erwärmungspotenzialdaten von verschiedenen Anbietern sich künftig immer stärker angleichen würden. Das sehe er in der Zusammenarbeit mit verschiedensten Interessengruppen: “Gemeinsam achten wir darauf, dass die Grundlagen robuster werden, als sie es in den letzten vier Jahren waren.” Die nächste Anpassung der Berechnungsmethode steht schon vor der Tür: “Die Folgen sind, dass der MSCI World tendenziell eher wieder wärmer wird”, sagt Marchand. Der Grund: Die aktuelle Methode übernimmt die Klimaziele der Unternehmen eins zu eins. Wenn eine Firma künftig behauptet, sie werde das Netto-null-Ziel bis 2050 erreichen, dann wird diese Projektion nicht mehr ungeprüft übernommen. Wie lassen sich die Klimaziele von Unternehmen überprüfen? Laut Marchand empfiehlt GFANZ, eine Art Kontrollsystem zu entwickeln, das die von den Unternehmen gesteckten Ziele mit den bisher erreichten Reduktionen abgleicht und die kommunizierten Ziele somit bewertet. Wenn eine Firma nicht zeigen könne, dass sie ihre zuvor gesetzten Ziele erreicht habe, so Marchand, werde das Erwärmungspotenzial entsprechend angepasst. Es sind Änderungen wie diese, die in an der Weltklimakonferenz in Sharm el-Sheikh von nächster Woche diskutiert werden.Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine angepasste und gekürzte Version, die der Autor für das Online-Magazin Republik schrieb. Nachzulesen ist der Text hier.