Für vier deutsche Wirtschaftsethiker – drei von ihnen lehren an Schweizer Universitäten – ist der Fall klar: Westliche Firmen sollten sich praktisch ausnahmslos aus Russland zurückziehen und gleichzeitig aktiv Massnahmen ergreifen, die den “Aggressor Russland wirtschaftlich schwächen”.
Das schreiben Thomas Beschorner, Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen, Guido Palazzo, Professor für Unternehmensethik an der Universität Lausanne, Peter Seele, Professor für Wirtschaftsethik an der Universität in Lugano, sowie Markus Scholz, Professor für Business Ethics & Corporate Governance an der FHWien, in einem Beitrag in der deutschen Wochenzeitung “Die Zeit”.
Laut den Autoren gibt es drei Gruppen von Konzernen: “Es gibt die einen, die brechen ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland ab, nehmen russische Produkte aus ihren Sortimenten und schliessen Produktionsstätten oder Filialen vor Ort. Dazu zählen, nur beispielhaft: Ikea, Apple, Volkswagen, alle grossen Kreditkartenunternehmen, Starbucks oder Coca-Cola.”
“Andere hingegen, der Lebensmittelkonzern Nestlé, die grösste ausländische Bank in Russland (Raiffeisen Bank International), Subway oder Metro, setzen ihre Geschäftstätigkeiten in und mit Russland fort.” Diese Unternehmen sehen sich “nach entsprechenden Verlautbarungen in einer sozialen Verantwortung: für die eigenen Mitarbeitenden in Russland einerseits, für die russische Bevölkerung andererseits”. Und es gibt laut den Autoren noch eine dritte Gruppe, die "keinen Piep" zur Unternehmensverantwortung mache.
"Moralische Pflicht, friedensstiftend zu handeln"
Für die vier Wirtschaftsethiker ist der Fall klar: “Die Gesellschaft fordert angesichts des Angriffskriegs Russlands von Unternehmen sehr deutlich ein wie auch immer geartetes Engagement." Zugespitzt heisse das: Die Unternehmen, die jetzt nicht aus Russland rausgehen, würden Gefahr laufen, ihre "soziale Akzeptanz" zu verlieren.
Was das richtige oder falsche Handeln in diesem Krieg sei, habe die Gesellschaft bereits entschieden – auch für Unternehmen. Ganz praktisch bedeute dies: "Wirtschaftliche Sanktionen wurden als wirkungsvolles Instrument gegenüber Russland bestimmt.”
Daraus leitet sich gemäss den Autoren eine "Konsequenz" ab, wie sich Unternehmen in der aktuellen Situation verhalten sollen. “Es ist für Unternehmen ethisch geboten, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um im Geiste der gesellschaftspolitischen – und normativ legitimierten – Vorgaben, diesen Krieg baldmöglichst zu beenden und Frieden zu ermöglichen.”
“Dies sollte für Unternehmen nicht nur eine Frage gesellschaftlicher Akzeptanz sein. Es geht nicht nur um ein erweitertes Kosten-Nutzen-Denken und um die Sorge der Reputation. Es ist die Verantwortung und die moralische Pflicht von Unternehmen, durch ihr Handeln friedensstiftend zu wirken.”
Zweifel an friedenstiftender Wirkung
Ob die radikale Abkehr von westlichen Konzernen tatsächlich friedenstiftend wirkt, ist nicht erwiesen. Manche Beobachter gehen davon aus, dass dies genau das Gegenteil bewirken könnte. Mit dem Rückzug der Firmen werden «normale» Russinnen und Russen getroffen, wie die NZZ in einem Kommentar schreibt. “Wie fühlen sich jetzt wohl die Tausenden russischer McDonald’s-Mitarbeiter, selbst wenn ihr Lohn vorerst weiter gezahlt wird? Dass sie in Massen gegen das Putin-Regime aufstehen werden, darauf sollte man angesichts der diktatorischen Zustände wohl nicht hoffen.”
Wahrscheinlicher sei, so die NZZ, dass sich viele zu Unrecht bestraft fühlten. Die Alternativen würden damit weniger. Statt des Jobs bei einer westlichen Firma würden sich manche früher oder später womöglich eine Arbeit in der russischen Staatswirtschaft suchen müssen. “Damit wächst die Gefahr, dass die Menschen in eine stärkere Abhängigkeit vom Putin-Regime getrieben werden.”
Interessant ist, dass einer der vier Wirtschaftsethiker bis vor kurzem eine ähnliche Meinung vertrat. Markus Scholz von der FHWien fand es sogar “brandgefährlich”, wenn westliche Firmen sich als politische Akteure gebärden würden. In einem Beitrag in der “Wirtschaftswoche” schrieb er, dass "Gefahren des nicht abgestimmten politischen Handelns von Unternehmen in Kriegsfällen nochmal verstärkt" würden. Die Folgen dieses Handeln seien “wissenschaftlich noch nahezu unerforscht”.
Besonders kritisch sieht Scholz die Aktion von Tesla-Gründer Elon Musk, der seinen Satelliteninternetdienst Starlink in der Ukraine aktivierte. "Uns sollte uns dieser Fall zu denken geben", schieb Scholz. “Hier handelt ein Multi-Milliardär fast ohne Checks and Balances. Seine Handlungen mögen moralisch richtig sein, aber ihnen fehlt jegliche demokratische Legitimität.”
Es sei bisher unklar, wie die russische Seite Musks Handlungen einordnen wird. "Bewerten die Russen Musks Handlungen als das Tun eines exzentrischen Milliardärs, der wie so häufig auf eigene Rechnung handelt? Oder bewerten sie die Unterstützung des Führers eines der mächtigsten und bekanntesten amerikanischen Unternehmens, für das Musk schliesslich steht, generell als amerikanische Intervention im Ukraine-Krieg? Letzteres würde beim russischen Aggressor wahrscheinlich ebenfalls eine harsche Reaktion auslösen."
Bisher zeigen die verhängten Subventionen und die Rückzüge von westlichen Firmen aus Russland nur wenig Wirkung. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine scheint mit jedem Tag noch brutaler zu werden.
“Unternehmensverantwortung bedeutet, aktiv Massnahmen zu ergreifen, die den Aggressor Russland wirtschaftlich (und damit sowohl aussen- wie innenpolitisch) schwächen. Der Normalfall für jedes Unternehmen sollte also der Abbruch jeder wirtschaftlichen Beziehung in und mit Russland sein. Beispiele dafür sind: das Abstossen von Unternehmensbeteiligungen an russischen Unternehmen, wie es etwa BP praktiziert, Schliessungen von Produktionsstätten in Russland (Volkswagen) und der Verzicht auf russische Produkte im Sortiment in heimischen Märkten.
Aus ethischer Sicht kann es nur sehr wenige Ausnahmen geben, wie Lieferungen von Medikamenten oder Dienstleistungen, die der allgemeinen Sicherheit der Bevölkerung dienen – etwa die Wartung von Atomkraftwerken. Diese Situation kann sich in der Zukunft ändern, wenn zum Beispiel die russische Bevölkerung unter massiven Versorgungsengpässen im praktischen Leben leidet. Momentan stellt sich diese Frage jedoch nicht. Momentan können Russen keine Billy-Regale und keine Big Macs mehr kaufen – Kitkat-Riegel der Firma Nestlé schmecken noch.
Jede Ausnahme ist von Unternehmen begründungsbedürftig. Mögliche Gründe wie die Sorge um die wirtschaftlichen Interessen der Aktionäre, die "Versorgungspflicht" der russischen Bevölkerung oder der Verlust von Arbeitsplätzen in russischen Filialen westlicher Unternehmen sind allenfalls schwache Begründungen. Sie tragen nicht als eine Art Abwägungsargumente, weil gegenüber Verletzungen von fundamentalen Moralkategorien wie dem Völkerrecht oder der Menschenwürde schlicht nicht abgewogen werden kann.
Sie sind vielmehr Ausdruck einer oft zu beobachtenden "Kultur der Ausrede", als dass sie eine normative Legitimationskraft aufweisen und Unternehmensverantwortung ernst nehmen. Unternehmen, die meinen, sich über fundamentale normative Prinzipien hinwegsetzen und unbemerkt den Kopf in den Sand stecken zu können, müssen sich den Vorwurf einer "stillen Komplizenschaft" gefallen lassen. Denn: Es gibt schlicht keine richtigen Geschäfte in einem falschen Krieg.
Unternehmensverantwortung beinhaltet nicht nur Sanktionen, sondern ebenso ein Engagement der Firmen. Dazu zählen sozial abfedernde Massnahmen für in Russland entlassene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter westlicher Unternehmen. Genau das ist die Fürsorgepflicht eines Arbeitgebers. Es kann sich ferner in humanitärer Hilfe für die Ukraine widerspiegeln, aber ebenso in der Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen. Einige Mobilfunkanbieter erlauben beispielsweise kostenlose Telefonate aus der Ukraine hinaus und in die Ukraine. Der US-Unternehmer Elon Musk hat für die Ukraine sein Satelliteninternetsystem Starlink freigeschaltet, um nur einige Beispiele zu nennen.
Unternehmen sind jetzt gefordert, ihre Bedeutung als gesellschaftspolitische Akteure in stärkerem Masse zu reflektieren und als Corporate Citizen auch handlungspraktisch einzulösen. Sie sind als Citoyen ein verantwortlicher Teil der Gesellschaft und tragen zu Lösungen für drängende gesellschaftliche Probleme bei. Firmen sind nicht machtlos – im Gegenteil: Sie sind durchaus mächtige Spieler, auch im weltpolitischen Geschehen. Gerade jetzt können sie helfen, die Zukunft aktiv mitzugestalten."