Gastkommentar: Irrweg Pensionskassenreform
Es gelingt uns regelmässig nicht, das Unvorstellbare vorherzusagen, selbst wenn es sich abzeichnet. Die abgelehnte BVG-Reform ist exemplarisch für dieses Unvermögen, schreibt Martin Hellweg.
3. Oktober 2024 • Martin Hellweg

Wie eine Herde Büffel rennen wir zuweilen in ein und die gleiche Richtung, wiederholen ein Mantra, das wir immer wieder hören – und lehnen uns zu selten zurück und fragen, ob es gegebenenfalls auch anders sein kann. Die Altersvorsorge ist nicht gesichert, ist solch ein Mantra. Ich wette einen Büffel dagegen. Es stehen uns Zeiten im Überfluss bevor, wie wir sie uns nicht vorstellen können – und sie darum auch nicht in unsere Prognosen als «possible outcome» mit einbeziehen. Dies führt zu abwegigen Vorstössen, wie die nun an der Urne abgelehnte BVG-Reform. Es geht auch anders – und könnte so gar die Lösung für einen Megatrend sein.

Ein Termitenhügel – regelmässig bewundern wir die kollektive Arbeit dieser kleinen Wesen. Aber was würde wohl ein Ausserirdischer sagen, der das Schaffen der Menschheit über die Jahrhunderte beobachtet hätte? Er wäre noch viel erstaunter. Insbesondere die Zeit seit der industriellen Revolution um 1850 muss im Zeitraffer beeindruckend aussehen. Die Anzahl Gebäude, die wir errichtet haben, die technischen Errungenschaften, das Bevölkerungswachstum an sich, das wir bewältigen. Natürlich gilt es, unerwünschte Nebeneffekte wie etwa auf die Umwelt in den Griff zu bekommen. Aber das sollte unseren Stolz nicht schmälern. Die Geschichte der Menschheit ist eine enorm beeindruckende.

Das globale Wachstum ist dabei exponentiell. Wissen erzeugt Wissen, und dies lässt die Kurve der globalen Wertschöpfung immer steiler ansteigen. Und dies bedeutet genau eines: Wir werden einen Lebensstandard erleben, den wir uns in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Fakturieren wir das in unsere Entscheidungen als Möglichkeit mit ein? Mitnichten. Die zuletzt abgelehnte Vorlage zur BVG-Reform zeigt dies geradezu exemplarisch.

Die BGV-Reform war zu kurz gedacht

Bei der BVG-Reform, wie sie am 22. September abgelehnt wurde, ging es um die Senkung der Renten. Die Vorlage wurde hier und da aufgehübscht mit weiteren Elementen, aber im Kern soll der Umwandlungssatz für das Obligatorium von 6,8 auf 6,0 Prozent gesenkt werden, eine Rentenkürzung von 12 Prozent. Steht die Pensionierung an, wird mit diesem Satz die Rente für immer festgeschrieben – was bei der heutigen Lebenserwartung +20 Jahren sein können. Wer kann in Zeiten von Automatisierung, Digitalisierung und sogenannter Künstlicher Intelligenz aber wirklich Jahrzehnte in die Zukunft schauen? Und wenn wir es schon tun, was ist das wahrscheinlichste Szenario?

Der Wachstumsmotor «Big Tech» kennt keine Präzedenz. Unternehmen wie Apple, Microsoft, Nvidia, SAP oder Oracle revolutionieren die Welt. Big Tech ist nicht mehr und nicht weniger als die 3. Industrielle Revolution, eine neue Stufe des Wachstums und Wohlstands, eine massive Beschleunigung der Exponentialität, getrieben nicht nur von der Entwicklung der Big-Tech-Unternehmen selbst, sondern auch all derer, die diese mit ihren Produkten effizienter, zuverlässiger, leistungsfähiger machen. Und so ist es vermutlich sogar das wahrscheinlichste Szenario, dass die nächsten 20 bis 30 Jahre eine Bonanza unglaublichen Ausmasses werden für Kapitaleigner – und so auch für die Pensionskassen.

Dennoch sah man pessimistisch in die Zukunft, wollte den Umwandlungssatz senken, der Pensionären ihre Renten für die nächsten 20 bis 30 Jahre festschreibt, ohne jeden Mechanismus, der einen Ausgleich schafft, wenn es zur Bonanza kommt. Es glich einer Enteignung der heutigen Pensionäre, die sich abzeichnenden Entwicklungen nicht zur Kenntnis zu nehmen und das Pensionskassensystem flexibel anzupassen – und wurde so auch deutlich abgelehnt.

Wie kann das Pensionskassensystem zukunftssicher gestaltet werden?

Ein fixer Umwandlungssatz für Pensionäre, die davon 20 bis 30 Jahre leben sollen, funktioniert nicht mehr. Dafür leben wir zu lang. Was es braucht, ist ein zweiteiliger Umwandlungssatz, mit einem festen und einem variablen Bestandteil. Klingt komplex, ist aber reine Finanzmathematik, es bedarf periodischer Aktualisierungen aufgrund wiederkehrender Berechnungen. Die vorgeschlagenen 6,0 Prozent als Basis-Umwandlungssatz wären dann auch akzeptabel. Denn es kämen, je nach Entwicklung der Kapitalmärkte, vielleicht 0,5, 0,8, satte 2,0 oder gar 5,0 Prozent über die Laufzeit der Rente als variabler Umwandlungssatz dazu.

Wenn passiert, worauf ich hier besagten Büffel wette – enorme Kapitalgewinne in den nächsten Dekaden –, werden die Renten dynamisch ansteigen und die Pensionäre davon mit profitieren.

Die 20-Stunden-Woche der Zukunft braucht Antworten

Genau hier liegt der Zauber in unserem hervorragenden Schweizer Pensionskassensystem. Es könnte Lösung bieten für die Adressierung eines Megatrends, dem wir uns zu stellen haben: Erbringen Maschinen (hier als Überbegriff für alles, was nicht durch den Menschen, sondern durch technische Lösungen vollbracht wird) immer mehr Leistung, werden wir als Menschen immer weniger für unseren Wohlstand zu arbeiten haben. Waren es 1850 noch unvorstellbare 84 Arbeitsstunden/Woche, so sind es in der Schweiz heute gerade mal 31 Stunden.

Dieser Megatrend bringt aber auch eine grosse Herausforderung mit sich: Durch Lohnausgleich wird die Abnahme der Arbeitsstunden in der Zukunft nicht zu kompensieren sein, denn das würde den Faktor (menschliche) Arbeit in eine immer noch härtere Konkurrenz zum Faktor Kapital (dem die Maschinen gehören) stellen. Schon in den vergangenen Jahrzehnten sind die Löhne für menschliche Arbeit nicht so gestiegen wie das Kapital sich mehrte durch Standardisierung, Automatisierung, Digitalisierung und nunmehr auch KI. Dieser Trend wird sich fortsetzen und noch verschärfen. Wo der Gärtner bisher noch einen Rasen für 30 Franken pro Stunde mähen konnte, sitzt ihm heute der Automower im Nacken, der es für einen Bruchteil der Kosten tut – und dazu noch durchgängig geschnittenen Rasen produziert. Und es wird nicht beim Gärtner bleiben. Man stelle sich nur mal vor, der gesamte Transportsektor wird durch selbstfahrende Vehikel automatisiert und eine der grössten Quellen für menschliche Arbeit dieser Tage – Dinge von A nach B bringen – fällt weg.

Diese Konkurrenz zwischen Mensch und Maschine birgt sozialen Sprengstoff in sich. Und genau hier kann das Pensionskassensysteme Schweizer Prägung dazu beitragen, diese Entwicklung aufzufangen – mit einer Rente ab 18, erst gering, zugleich sukzessive über das Leben ansteigend.

Eine solche Rente aus Kapitalerträgen über das gesamte Erwachsenenleben kann es natürlich nur dann geben, wenn Produktivitätsfortschritte entsprechende Gewinne erzeugen. Geschieht dies aber, so müssen wir sicherstellen, dass die gesamte Bevölkerung an dieser erneuten industriellen Revolution teilnimmt – und dass die Einkommenseinbussen aus nur noch wenigen Stunden Arbeit bei real nicht genug steigenden Löhnen aufgefangen werden durch eine Rente ab dem 18-ten Lebensjahr.

Das Modell einer variablen, von Kapitalgewinnen abhängigen Rente ab 18 ist in sich geschlossen und damit robust. Gibt es die Entwicklung nicht, in der menschliche Arbeit durch Maschinen massiv ersetzt wird, dann bleibt menschliche Arbeit wichtig und man kann daraus sein Leben bestreiten. Passiert aber das, was aus heutiger Sicht das wahrscheinlichste Szenario ist – und in dem wir uns bereits befinden –, dann werden gigantische Produktivitätsgewinne einen heute nicht vorstellbaren Wohlstand erzeugen, dies aber nur dann bei allen, wenn alle auch an den Kapitalgewinnen partizipieren.

Wir stellen besser sicher, dass davon nicht nur Jeff Bezos und Co. profitieren, sondern die breite Bevölkerung. Sonst wird die derzeitige, eigentlich wundervolle Welten verheissende industrielle Revolution eine gesellschaftliche solche. Die Bevölkerung wird sich nicht anschauen, wie der Faktor Arbeit immer mehr entwertet wird und andere, die in Maschinen investiert sind, Multimilliardäre werden. Wir müssen alle von dieser Entwicklung profitieren.

Und was nun?

Der jüngste Anlauf zu einer BVG-Reform wurde am 22. September bachab geschickt. Dies gibt die Möglichkeit, nochmals neu zu denken, und hoffentlich resultierend in der Erkenntnis, dass nur (1) ein fixer und variabler Umwandlungssatz kombiniert sowie (2) die Berücksichtigung des sukzessiven Ersatzes menschlicher Arbeit durch Maschinen eine Lösung herbeiführt und dazu geeignet ist, bezüglich der tiefgreifenden strukturellen Veränderung weg vom Faktor Arbeit hin zum Faktor Kapitel/Maschinen sozialen Frieden zu schaffen.

Standardisierung, Automation, Digitalisierung und KI sind keine abstrakten Visionen. Es ist heute. Also agieren wir besser heute und mit Weitblick. Wir müssen das Unvorstellbare denken können, weil es bereits Realität ist.


Martin Hellweg (57) ist gesellschaftspolitischer Blogger bei The Modern Citizen, Musiker, Weinbauer sowie Fühungskräfte-Sparringspartner bei der Ally Management Group.