UBS, Raiffeisen, Postfinance und bald Julius Bär – die grössten Banken der Schweiz werden von ehemaligen KV-Lehrlingen geführt. Für Bildungsexperten ist das keine Überraschung.
29. Juli 2024 • Beat Schmid

Stefan Bollinger, der neue Chef der Privatbank Julius Bär, ist einer der wenigen Schweizer, die Partner bei Goldman Sachs geworden sind, der vielleicht wichtigsten Wall-Street-Bank. Bollinger ist dort Co-Chef der Sparte Private Banking für die Region Europa, Naher Osten und Afrika. Das ist einerseits erstaunlich, andererseits aber auch nicht.

Der Winterthurer hat sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Er absolvierte eine Banklehre bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB) und ging mit 25 Jahren nach London, wo er zuerst bei JP Morgan und dann viele Jahre bei Goldman Sachs arbeitete. Bollinger, der nach dem KV eine Ausbildung zum Finanzanalysten (CFA) absolvierte, gilt als harter Chrampfer.

Wie man aus dem Inneren der Bank hört, war es die breite Praxiserfahrung, die den Ausschlag für Bollinger gab. Mit seinem Hintergrund hebt er sich von Philipp Rickenbacher ab, der nach seinem ETH-Abschluss in Biotechnologie zunächst bei McKinsey als Berater tätig war. Rickenbacher musste Julius Bär im Februar verlassen, nachdem die Bank 600 Millionen Franken wegen fauler Benko-Kredite abschreiben musste. Fairerweise sei hier angeführt, dass Bär-Präsident Romeo Lacher – selbst promovierter HSG-Ökonom – als Mitglied des Risikoausschusses die Kreditpositionen abgesegnet hatte.

Als Bankchef mit KV-Abschluss befindet er sich in der Schweiz in bester Gesellschaft. Fünf der sechs grössten Banken werden heute von ehemaligen KV-Lehrlingen geführt. UBS-Chef Sergio Ermotti absolvierte seine Lehre bei der Cornèr Bank in Lugano. Auch Raiffeisen-Chef Heinz Huber, Beat Röthlisberger von der Postfinance und Manuel Kunzelmann von der Migros Bank haben eine Banklehre absolviert.

Bei der ZKB steht mit Urs Baumann seit bald zwei Jahren ein HSG-Ökonom an der Spitze. Er löste den KV-Absolventen Martin Scholl ab, der die Bank während 15 Jahren erfolgreich und geräuschlos geführt hatte. Scholl löste Hans F. Vögeli ab, ein promovierter Jurist, der die ZKB in den Nullerjahren mit windschiefen Handelsgeschäften spektakulär in die Krise führte.

«Praxiswissen, das Hochschulabsolventen nicht haben»

Für Rudolf Strahm, den einstigen Nationalrat und Preisüberwacher, bietet die Berufslehre auch heute noch eine gute Basis für eine erfolgreiche Bankkarriere. «Wer das Geschäft von der Pike auf lernt, entwickelt früh ein gutes Gespür für Kunden und deren Anliegen – vielleicht eine der wichtigsten Voraussetzungen, um im Bankgeschäft erfolgreich zu sein», sagt Strahm, der sich als Publizist intensiv mit der Berufsbildung auseinandersetzt und vor einer Überakademisierung warnt.

Laut Strahm haben Berufsleute mit einem Lehrabschluss den Akademikern etwas Entscheidendes voraus: «Sie verfügen über ein Praxiswissen, das Hochschulabsolventen nicht haben.» In der Lehre, so Strahm, würden zudem Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Durchsetzungsvermögen eingeübt. «Die jungen Leute lernen, in Teams zu arbeiten und Verantwortung für Projekte zu übernehmen – heute bezeichnet man das als Soft Skills.» Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm spricht in diesem Zusammenhang von «praktischer Intelligenz».

Die Vorteile einer Berufslehre würden leider vielfach nicht mehr gesehen, meint Strahm. Ein Berufsabschluss gelte unter den akademischen Eliten als soziales Stigma und Sackgasse: «Gerade in Hotspots wie Zürich mit vielen Expats aus Deutschland werden die Kinder durch die Gymnasien geschleift, nur um später an der Uni mittelmässigen akademischen Nachwuchs zu produzieren.» Dabei lasse eine abgeschlossene Berufslehre alle Möglichkeiten offen, sagt Strahm. Er verweist auf Anschlusslösungen wie die Höhere Berufsbildung sowie die Berufsmaturität oder die Passerelle, die einen prüfungsfreien Zugang zu Fachhochschulen oder Universitäten ermöglichen.

So viele KV-Lernende wie seit 10 Jahren nicht mehr

Laut Bundesamt für Statistik sind die Berufsabschlüsse in der Banklehre rückläufig. Von 2019 bis 2023 nahmen sie von 1069 auf 939 ab. Der Rückgang könnte mit der sinkenden Zahl der Banken zusammenhängen. Viele Augen sind deshalb auf die UBS gerichtet. Eine Sprecherin sagt, dass die Zahl der rekrutierten Lernenden für 2024 «stabil gehalten» wurde. Bei der UBS würden dieses Jahr 380 KV- und IT-Lernende beginnen.

Bei Raiffeisen beginnen dieses Jahr 241 KV-Lernende – so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr, sagt ein Sprecher der Genossenschaftsbank. Mit aktuell 650 KV-Banklernenden sei die Raiffeisen-Gruppe eine der grössten Ausbildnerinnen von Banknachwuchs. Rund die Hälfte der Lernenden erlangt parallel zur Lehre die Berufsmaturität.

Auch Raiffeisen-Chef Heinz Huber möchte seine Lehrjahre nicht missen. «Eine KV-Lehre auf der Bank ist ein idealer Einstieg ins Berufsleben und ermöglicht es, schon früh prägende Erfahrungen zu sammeln», sagt er. Heute seien die Tätigkeitsgebiete der Lernenden weiter gefasst, «kreativer und weniger repetitiv – aber auch anspruchsvoller».

Gewiss, KV-Absolventen wie Bollinger oder Huber bieten keine Gewähr für einwandfrei geführte Bankgeschäfte. Auch ihnen können Fehleinschätzungen unterlaufen. Unter Marcel Ospel, der ebenfalls das KV absolvierte, erlitt die UBS Milliardenverluste und musste vom Staat gerettet werden. Betrachtet man aber die Biografien des Spitzenpersonals bei der Credit Suisse, fällt auf, dass in den letzten Jahren fast ausnahmslos Akademiker an den Schalthebeln sassen.

Zuletzt steuerten die promovierten HSG-Ökonomen Ueli Körner und Axel Lehmann die Bank in den Abgrund. Zuvor hatte der Wirtschaftsjurist Urs Rohner der CS seinen Stempel aufgedrückt und mit Tidjane Thiam einen Absolventen einer französischen Eliteuniversität zum Chef gemacht. Alles hochintelligente Akademiker zwar, aber womöglich mit wenig «praktischer Intelligenz» ausgestattet.

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